Die Akropolis und das Geld
von Céline Spieker
Vom 7.-13. Oktober 2015 war ich in Athen, um die Stadt und die Stimmung aus nächster Nähe zu erleben. Ich besuchte verschiedene Solidaritätsstrukturen, soziale Arztpraxen, ein Flüchtlingslager, einen Radiosender usw. und werde in einer Serie darüber berichten. Im Mittelpunkt des ersten Teils steht ein etwas allgemeinerer Eindruck der äußeren Hülle der Stadt und der in ihrem Erscheinungsbild spürbaren Krise.
„Höllisch aufpassen‟ müsse ich in Athen, so hatte man mich vor meiner Reise nach Athen in der vergangenen Woche gewarnt. Nichts sei sicher, Wohnungen würden am helllichten Tage aufgebrochen und ausgeräumt, wenn man Geld in der Wohnung ließe, dann müsse man es gut verstecken, oder eigentlich immer mit sich herumtragen, die Tasche müsse man in den „Trolleys‟, den Athener Elektrobussen, permanent fest umklammert halten und am Besten keinen auffälligen Schmuck tragen. Darüber zirkulieren in Griechenland Witze wie dieser: „Ein Dieb bricht die Wohnungstür auf und brüllt die Wohnungseigentümerin an: „Wo ist das Geld?‟ Die antwortet freundlich aber bestimmt: „Kommen Sie, wir suchen gemeinsam, ich weiß auch nicht, wo ich es hernehmen soll.“
Tatsächlich, wenn man das Verhalten der Athener und Athenerinnen in der Öffentlichkeit in Augenschein nimmt, so fällt auf, dass viele ihre Rucksäcke vor dem Bauch tragen, die Gurte fest umklammern, sich schnell bewegen. Permanente Durchsagen in der Metro lauten in Griechisch und Englisch: „Achten Sie auf Ihre persönlichen Gegenstände!“ Wo ich wohne, werde ich gefragt und ob meine Wohnung eine stabile Tür habe. „In Kypseli“, antworte ich und erfahre, dass dieser Bezirk wohl eher nicht zu den wohlhabenden und gut gesicherten Athener Stadtteilen gehört, sondern als traditioneller Innenstadtbezirk in den letzten Jahren einen zunehmend problematischeren Ruf genießt. Noch in den 80er und 90er Jahren ein Wohnbezirk der gehobenen Mittelschicht, leben in Kypseli nun viele Migranten, die ersten afrikanischen Lebensmittelläden haben eröffnet, an der Straßenecke mit der Haltestelle, an der ich den Trolley Nr. 2 oder 4 zum Syntagma nehme, betrete ich ein Bekleidungsgeschäft und verlasse es schnell wieder – aus Scham, denn auf dem Eingangsschild steht zwar „European style“, doch auf den Bügeln hängen getragene Kleider und die Kundinnen sind alles andere als in einem Kaufrausch…
Nicht nur die Angst vor Diebstahl prägt Athen in diesen Tagen. Es ist, so erzählt mir ein Freund, die Angst in vielfältigen Facetten: „Diejenigen, die Geld haben, haben Angst es zu verlieren. Diejenigen, die keins haben, sorgen sich darum, Geld zu bekommen; und die die noch etwas haben, überlegen, wie sie es einteilen und damit auskommen.“ Geld bestimmt das Leben überall. Hört man in der Metro genau auf die Gespräche am Handy, dann dominiert das Wort: ‚Evró‘. Es klingt ähnlich wie das griechische Wort ’neró‘, – Wasser und hat eine ähnliche Emphase, einen bestimmten Drall durch das gerollte r und einen jähen Stopp durch die Betonung auf dem o am Ende, ganz so, als begänne etwas mit großem Elan und Hoffnung und würde abrupt abgebrochen. Nomen est Omen. Der Euro hat Griechenland in eine Situation gebracht, in der die von der ‚Troika‘ in den Memoranden verordneten rezessiven Maßnahmen zur inneren Abwertung der griechischen Ökonomie zu verheerenden sozialen Auswirkungen geführt haben. Dass die Arbeitslosigkeit über 25 % erreicht hat, viele Menschen hungern, keine Krankenversicherung haben, oder von Zwangsräumung bedroht sind – ist mittlerweile bekannt. Dass sich die Armut jetzt jeoch auch in die Mitte der Gesellschaft hineinfrisst, weniger. Eine Lehrerin, die in diesen Tagen eingestellt wird, erhält als Eintrittsgehalt nur noch 640 Euro, eine Minderung um 40%. Das Höchstgehalt eines Lehrers beträgt netto 1400 Euro. In vielen Familien gibt es häufig nur noch ein Einkommen, oft genug besteht es in der Rente eines Mitgliedes. Das am 15.Oktober verabschiedete Gesetzespaket mit den aus dem 3. Memorandum resultierenden Regelungen sieht die erneute, also kumulativ wirkende, Rentenkürzung um 11 bis 18% der höheren Renten ab 1000 Euro vor. Hält man sich vor Augen, dass nicht selten sogar mehrere Familien von diesem Einkommen leben, dann kann man sich schrecklichen Folgen in den Familien vorstellen.
Die Jagd nach dem Geld hat die gesamte griechische Gesellschaft erfasst und wird besonders dort sichtbar, wo es durch Abwesenheit glänzt, wo es fehlt: In dem jungen Mann, der auf dem Boden liegt und sein Gesicht verbirgt und dabei einen Plastikbecher mit wenigen Münzen in der Hand hält. Im Schwarzfahrer, der – erwischt – aus dem Bus geworfen und dabei tödlich verletzt wird. In den notorischen Betrügereien der Athener Taxifahrer. Und in der Unterwerfung der politischen Gestaltungsmöglichkeiten unter den Sparzwang. Sind es bei uns in NRW die Straßen, die nicht mehr ausgebessert werden, oder die Einschränkung der Öffnungszeiten der öffentlichen Bäder, dann sind es in der griechischen Gesellschaft der Verfall der Krankenhäuser, die Liquidation des öffentlichen Schulsystems, der Ausverkauf des griechischen öffentlichen Vermögens, wie z.B. der 14 lukrativen Flughäfen an die von der Troika kontrollierte Treuhand. Es ist, als erfordere die Anwesenheit von Euro die Abwesenheit der Werte. Ein französischer Kollege brachte es vor einigen Jahren mit der ernst gemeinten Frage auf den Punkt: „C’est quoi nôtre projèt européen, c’est l’argent?“ „Was ist denn eigentlich unser europäisches Projekt? Ist es das Geld?“
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben formuliert es in einem kürzlich in der „Zeit“ erschienenen Interview so: „Das ist der Kontext, in dem die gegenwärtige Vorherrschaft des Ökonomischen steht. In Ermangelung historischer Aufgaben ist das biologische Leben zum letzten politischen Auftrag des Abendlands erklärt worden.“ (Interview Giorgio Agamben in „Die Zeit“)Geld für das nackte Überleben ist in Anlehnung an den Sciencefiction „Dune“ aus dem Jahr 1984 zum „Spice“, zur lebenswichtigen und alles dominierenden Grundsubstanz der Gesellschaft geworden.
Die Abwesenheit des Geldes und die Abwesenheit von Gestaltungsmöglichkeit wird in den Athener Straßen besonders spürbar, wenn man an den verfallenen und von den Abgasen grau gefärbten und oft rissigen Fassaden, heraufblickt und – lässt man den Blick entlang der Häuserfluchten wandern – mit der thronenden Gestalt des Parthenontempels in geradezu dialektischer Antithese konfrontiert wird. Heroisch auf dem heiligen Felsen ist sie von überall sichtbar, die Stadt auf diesen zentralen Punkt ausgerichtet, abends in einem goldenen Licht angestrahlt, in ihrer Gegenwart geronnene demokratische Vision.
In ihrer ubiquitären Gegenwart und unausweichlichen Ewigkeit ist es nicht möglich, sich dem Diktat des neoliberalen „There is No Alternative“ widerstandslos zu beugen und auf die politische Gestaltbarkeit der Gesellschaft zu verzichten, die demokratischen Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung der Anwesenheit von Geld zu opfern. Zu sichtbar steht über dem Parlament der Griechen, der Vouli, die Akropolis, der Tempel der Athene, der Schutzgöttin dieser Stadt. Zu präsent ist die der demokratischen Tradition verpflichtete griechische Sprache, zu lebendig die Gegenwart derDemokratie.
Doch in der Realität betrug die Wahlabstinenz in den Wahlen vom 20. September nie dagewesene 45%(Andreas Karitzis: Wahlauswertung). In einem Land, in dem Wahlpflicht besteht, ist diese Zahl ein deutlicher Hinweis auf einen Prozess der Resignation und der erneuten Depression weiterer Wählermilieus. Hatten am 25. Januar 2015 noch immerhin 64% der Wähler ihre Stimme abgegeben, so entschieden nun nur noch etwas mehr als die Hälfte der Wähler über die Zusammensetzung des Parlaments. Für westeuropäische Verhältnisse ist diese Tendenz nicht neu, viele erinnern sich an die Ignoranz hinsichtlich der großen Friedensdemos in Bonn in den 80er Jahren seitens der etablierten Politik, die in Kohls Ausspruch gipfelte: „Die Hunde bellen, aber die Karawane zieht weiter.“ In Deutschland haben wir uns an diesen Prozess bereits gewöhnt und auch Joschka Fischers Turnschuh, den er bei seiner ersten Vereidigung als Minister in einem unkonventionellen Impuls getragen hatte, steht heute als Exponat der zeitgenössischen Geschichte im Museum. Doch nun hält die „Politikverdrossenheit“, die Resignation und der Frust über fehlende Gestaltungsmöglichkeiten auch im Mutterland der Demokratie Einzug. „Kourastikame“ – „Wir sind erschöpft“, sagen die Griechen und meinen damit, dass sie nach den Mobilisierungen der letzten Jahre, nach den Kämpfen und Enttäuschungen keine Energie mehr haben, um sich gegen die Kürzungspolitik der Memoranden zu stemmen, die die Arbeitnehmerrechte, die Flächentarifverträge, das Sozialsystem usw. völlig ausgehöhlt haben. Sie sind erschöpft und fühlen sich in ihrem Kampf gegen die Kürzungspolitik von den anderen europäischen Staaten alleingelassen. Alleingelassen auch in ihrem Bewusstsein über die Notwendigkeit der Demokratie in allen alltäglichen Prozessen, in ihrer Perspektive auf die demokratische Tradition. Tsipras hatte noch vor dem Referendum am 5. Juli gewittert: „Wir werden die Demokratie nicht im Land ihrer Entstehung zu Grabe tragen.“ Doch mit der Annahme des Memorandums am 13. Juli nach dem 16-stündigen Verhandlungsmarathon hat sich mit der in ihm enthaltenen Klausel des Verbots der „unilateral actions“, der „einseitigen Schritte“, d.h. der nicht mit der ‚Troika‘ zuvor abgesprochenen Gesetzesvorhaben, auch diese Perspektive verflüchtigt. Und dem Wahlkampfslogan von Alexis Tsipras‘ Syriza vom Januar 2015 „Die Hoffnung kommt“ möchte man beinahe gemäß der deutschen Redensart hinzufügen: „Doch sie stirbt zuletzt“.
Vielleicht sollte man einfach aufhören, die Akropolis Abends im hellen Glanz erstrahlen zu lassen, denn die von ihr ausgehende Erinnerung an die Zeit, in der Politik von Partizipation der Vielen lebte und Verfahren entwickelt hatte, die Herrschaft der Wenigen zu verhindern, ist zu schmerzhaft. Vielleicht wäre es ehrlicher, sie damit einfach auszublenden und zur Realpolitik des Machbaren überzugehen, die von den nicht demokratisch legitimierten Technokraten der Troika nun in Athen gegen die Bevölkerungsmehrheit umgesetzt wird.
Vielleicht sollte man sie aber auch – in Anlehnung an das Mosaik der diversen und vielfältigen sozialen Bewegung, die sich in Athen und in Griechenland unter der Krise herausgebildet haben – bunt und vielfarbig erleuchten.
So wie mir Maria erzählt, die in der sozialen Arztpraxis in Arta unversicherte Kranke versorgt: „Seitdem ich die Solidaritätsarbeit mache, habe ich ein ganz anderes Verhältnis zu den Dingen entwickelt: Ich verschenke die Sachen, die ich nicht mehr brauche. Ich benötige eigentlich gar nicht mehr so viel, mein Leben hat sich verändert.“ „Das“, so erklärt ihr Christos von der Solidaritätsorganisation Solidarity 4 All „ist die Bedeutung der alternativen Ökonomie der commons, der gemeinsame Gebrauch der Güter, die wir nicht besitzen.“ Es geht um die Erfindung einer Lebensform, sagt Giorgio Agamben, „die nicht auf der Tat und dem Eigentum begründet ist, sondern auf dem Gebrauch.“ Denn, das Geld ist in seinen Augen „ein auf das Nichts ausgestellter Kredit“, der „nicht ewig bestehen“ kann. Bevor Maria wieder nach Arta zurückreist, notiere ich ihr den Namen des Philosophen, den sie mal lesen will. Und so bei Tageslicht betrachtet, ist die Akropolis eigentlich auch nichts weiter als ein aufwändig bebauter Hügel mit Olivenbäumen, von dem man einen – ganz brauchbaren – Blick über ganz Attika und die Ägäis hat.