Schlagwort-Archive: Grenze

Hellas Solidarität Bochum unterstützt Geflüchtete in Idomeni

Wie angekündigt besuchten wir als Vertreter*innen der Hellas Solidarität Bochum vom 30. März bis zum 3. April 2016 Thessaloniki, um die im März von vielen Spender*innen erhaltenen 11.300 Euro direkt in Griechenland zugunsten der Geflüchteten einzusetzen. Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen Spender*Innen! Ihr seid vorbildlich! Im folgenden Text möchten wir berichten, wofür wir die Gelder eingesetzt haben und wie unser Besuch in Thessaloniki verlief. Dabei schildern wir auch einige persönliche Begegnungen mit solidarischen Gruppen und Personen.

K1600_IMG_7538

Direkt nach unserer Ankunft am Mittwochabend besuchten wir den „Solidarischen Frauentreff Thessaloniki“ (Χώρος Αλληλεγγύης Γυναικών) im Zentrum Thessalonikis. Dort wurden wir von verschiedenen Aktivistinnen, u. a. der Vorsitzenden Voula Taki, empfangen. Mit ihnen konnten wir uns über unsere Aktivitäten und insbesondere die Flüchtlingssituation in Idomeni, Thessaloniki und Umgebung austauschen. Der offene Frauentreff Thessaloniki wurde vor einigen Jahren gegründet, um die von der Eurokrise und der Kürzungspolitik in Griechenland besonders stark betroffenen Frauen und ihre Kinder zu unterstützen. Denn die Arbeitslosigkeit von ca. 25 Prozent trifft oft Frauen und führt damit besonders häufig zu Armut, zusätzlich leiden sie unter der gerade in Krisenzeiten ansteigenden häuslichen Gewalt. Aktuell liegt ein Schwerpunkt ihres Engagements in der Unterstützung von flüchtenden und migrierenden Frauen und ihren Familien.

K1600_IMG_7537

Im Frauentreff lernten wir auch eine flüchtende Syrerin mit ihrer Tochter und ihrem Sohn kennen. Die Aktivistinnen organisierten und begleiteten einen Krankenhausbesuch für den an Diabetes erkrankten Jungen und brachten die Familie zwischenzeitlich bei sich privat unter. Der Mann und Vater befindet sich indes bereits als anerkannter Flüchtling mit einem älteren Sohn der Familie in Gelsenkirchen, die Mutter der Frau in Bochum. Aufgrund des Diabetes des Jungen war der Vater zunächst ohne seine Frau und die beiden jüngeren Kinder nach Deutschland gekommen. Die Aktivistinnen des Frauentreffs wollen sich nun gemeinsam mit der Familie beim deutschen Generalkonsulat in Thessaloniki für eine Familienzusammenführung einsetzen.

Am Donnerstagmorgen kauften wir zusammen mit Aktivistinnen des Frauentreffs Hygieneartikel, Trinkflaschen und Kinderkleidung im Wert von knapp 1.100 Euro und verteilten sie anschließend im Flüchtlingscamp Idomeni. Dazu nutzten wir den Stand der NRO PRAKSIS (s. u.) während der Essensausgabe. Die Situation im Camp war an diesem sonnigen und warmen Tag insgesamt ruhig, aber wir konnten die Anspannung unter den Geflüchteten spüren. Zum Zeitpunkt unseres Besuches hielten sich hier etwa 11.500 Geflüchtete und Migrant*innen auf, darunter sehr viele Kinder, die zum Teil unbegleitet und auf sich allein gestellt sind. Einen Großteil der Hilfe leisten, wie in allen nichtoffiziellen Camps in Griechenland, unabhängige Helfer*innen, sogenannte Freiwillige, ohne deren Einsatz die Situation in Idomeni unerträglich sein dürfte. Zweimal am Tag können sich die Flüchtlinge und Migrant*innen Essen an der zentralen Verteilstation abholen. Da dies aber nur reicht, um den schlimmsten Hunger zu stillen, bereiten sich viele Geflüchtete zusätzlich Essen auf Feuerstellen zu, die sie aus Blechkanistern und anderem Material improvisieren und vor den Zelten aufstellen.

Idomeni Asylum Service does not answer. Call again in next life

In der Nacht von Samstag, den 1. April, auf Sonntag, den 2. April, soll es zum wiederholten Mal zu Auseinandersetzungen unter einigen Geflüchteten gekommen sein. Die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit nehmen angesichts der fehlenden Aussicht auf eine Weiterreise nach Mittel- und Nordeuropa und der schlechten Lebensbedingungen im Camp zu, hinzu kommen die psychische Belastung aufgrund des langen Aufenthalts in Lagern und die Traumata aus den Kriegs- und Fluchterlebnissen.  Das Leben im Lager besteht häufig aus stundenlangem Anstehen an den Essensausgaben, bei Ärzten oder nach Dokumenten. Viele Flüchtende sind nun seit zwei Monaten den desaströsen Verhältnissen in Idomeni ausgesetzt. Entladungen aufgestauter Aggression und Frustration sind da unumgänglich. Gewollte oder zumindest in Kauf genommene Nebeneffekte einer Politik der geschlossenen Grenzen? Die aktuell von der griechischen Regierung offiziell avisierte Frist zur Räumung des Lagers Idomeni ist Ende April.

K1600_IMG_7589

Neben den offiziellen Lagern, die vom Militär betrieben werden, wie das Lager im Hafen von Thessaloniki selbst, bei Nea Kavala und bei Kilkis (Cherso), bestehen in der weiteren Umgebung von Thessaloniki diverse informelle, „wilde“ Camps. Auf dem Weg nach Idomeni machten wir einen Stopp auch in einem solchen Camp, das sich auf dem Gelände einer Tankstelle bei Polikastro befindet und in dem etwa 800 Flüchtende leben. Wie wir erst nach unserer Rückkehr aus den Medien (u. a. Liveticker Eidomeni: http://livetickereidomeni.bordermonitoring.eu) erfuhren, begann dort am Samstag, den 2. April, eine weitere Blockade der Fernstraße E75 zwischen Thessaloniki und der FYRO Makedonien für LKW, die bis zum 3. April andauerte. Wie Neal McQueen, ein seit einigen Monaten aus Griechenland berichtender Fotograf, in seinem Blog ‚perilioushope‘ schreibt (http://periloushope.tumblr.com), ging der Protestaktion die Schließung des Doktorzeltes durch die griechische Polizei im Camp voraus. Am 4. April wurde dann laut verschiedener Quellen die E75 auch durch Flüchtende des Camps bei Idomeni auf Höhe des Hotels „Hara“ blockiert.

K1600_IMG_7610

Am Freitag, den 1. April, trafen wir uns, begleitet von Voula Taki, mit der NRO PRAKSIS (Programs of Development, Social Support and Medical Cooperation) in einem ihrer Praxisräume in Thessaloniki und informierten uns über ihre Arbeit. PRAKSIS hat es sich zum Ziel gesetzt, den sozialen und wirtschaftlichen Ausschluss sozial schwacher Gruppen zu bekämpfen und deren persönliche und soziale Rechte zu verteidigen. Sie betreuen sowohl griechische Arme und Obdachlose, als auch Flüchtende, stellen Tages- und Dauerunterkünfte für Obdachlose und Asylsuchende und sichern darüber hinaus über verschiedene Polykliniken und mobile medizinische Einheiten deren medizinische Versorgung.

K1600_IMG_7619

PRAKSIS erhielten von uns medizinisches Equipment, u. a. eine Babywaage und ein Blutdruckmessgerät, im Wert von 500 Euro zur Unterstützung einer mobilen medizinischen Einheit für Flüchtende in Idomeni und Thessaloniki, das wir in einer Apotheke in Thessaloniki gekauft hatten. Die weitere finanzielle Unterstützung in der Höhe von 1000 Euro für einen Einkauf zum Aufbau einer zusätzlichen mobilen medizinischen Einheit wurde an diesem Tag vereinbart.

Am Nachmittag kauften wir gemeinsam bei Bios COOP ein, einem kooperativen nonprofit Biosupermarkt in Thessaloniki, der überwiegend biologisch angebaute, gentechnikfreie Produkte aus der Umgebung Thessalonikis verkauft. Um die Produkte erschwinglich zu machen, umgeht Bios COOP den Zwischenhandel und arbeitet direkt mit der landesweit vertretenen „Greek Food Coop“ zusammen, in der sich Landwirtschaftskooperativen und kleine Produzenteneinheiten zusammengeschlossen haben, um qualitativ hochwertige, lokale Produkte zu günstigen Preisen bei gleichzeitig fairer Bezahlung der Produzenten herstellen zu können.

K1600_IMG_7624

Die bei Bios COOP gekauften Lebensmittel im Wert von etwa 410 Euro werden von den Aktivistinnen vom Frauentreff eingesetzt, um Flüchtlingsfamilien zu versorgen, die beispielsweise aufgrund von Krankheit oder Schwangerschaft besonders gefährdet sind und deshalb privat bei Aktivistinnen des Frauentreffs untergebracht werden.

Nachdem wir bereits vor unserem Besuch in Thessaloniki ca. 4.800 Euro aus Spendengeldern für Flüchtende in Idomeni, für Zelte, Medikamente, Nahrungsmittel und Hygieneprodukte eingesetzt hatten, konnten damit nun also weitere ca. 4.530 Euro für diese Zwecke direkt in Nordgriechenland verwendet werden.

K1600_IMG_7671-001vp

Vom Freitagabend bis zum Sonntag stand unsere Reise dann ganz im Zeichen der Sozialen Arztpraxen. Bei einem Abendessen mit Vertreter*innen der Sozialen Arztpraxis und Apotheke Arta (KIFA Arta), die von der Bochumer Hellas-Solidarität seit Juni 2015 regelmäßig unterstützt wird und die mit einer Delegation im Dezember letzten Jahres Bochum besucht hatte, tauschten wir am Freitagabend Informationen u. a. über die aktuelle Situation der Flüchtenden im staatlichen Flüchtlingslager Filippiada bei Arta und in Bochum aus. Die Aktivist*innen der KIFA Arta betreuen, über ihre Aufgaben in der solidarischen Krankenversorgung in Arta hinaus, Flüchtende in diesem, etwa 50 km südlich von Arta entfernten Camp (Filippiada). Für diesen Zweck stellten wir ihnen 2.000 Euro zur Verfügung, mit denen sie gerne einen Spielplatz für die Geflüchteten im Lager Filippiada bauen würden. Außerdem gaben wir der Sozialen Arztpraxis und Apotheke Arta im Namen der Hellas-Solidarität Bochum 1.500 Euro für die Belange der Arztpraxis, die wir bereits vor dem Spendenaufruf vom März zugunsten der Praxis eingesammelt hatten.

IMG_7643-01

Am Samstagvormittag nahmen wir als Unterstützer*innen der Sozialen Arztpraxis und Apotheke KIFA Arta am gesamtgriechischen Treffen der griechischen solidarischen Arztpraxen in Thessaloniki teil, dessen Abschlussdokument u.a. die weitere Notwendigkeit der Unterstützung der Menschen ohne Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem und besonders der in Griechenland gestrandeten Geflüchteten betont. Die rund 25 anwesenden Solidarischen Arztpraxen und Apotheken wenden sich darin entschieden gegen jegliche Vereinnahmung ‒ auch seitens der Regierung ‒ und betonen ihre demokratischen Entscheidungsstrukturen. (Presseerklärung griechisch hier: http://www.solidarity4all.gr/el/news/5η-πανελλαδική-συνάντηση-κιφα-η-ανάγκη-που-μας-γέννησε-εξακολουθεί-να-υπάρχει ).

K1600_IMG_7591

Anlässlich der Vorstellung ihrer Aktivitäten durch die Vorsitzende der Sozialen Arztpraxis und Apotheke erhielten wir die Gelegenheit von unserer Initiative und der Zusammenarbeit mit Arta zu berichten. Natürlich erzählten wir auch von unserem Spendenaufruf für Idomeni und unseren Aktivitäten während unseres Besuchs in Griechenland. Aber wir übermittelten auch Informationen über die Situation der Geflüchteten in Deutschland und von den vor dem Rathaus streikenden Geflüchteten in Bochum. (http://www.bo-alternativ.de/2016/04/07/erklaerung-der-gefluechteten-des-protestcamps-vor-dem-rathaus/) Aktuell machten wir in Thessaloniki außerdem auf den mehrsprachigen Aufruf „Trains of Hope“ aufmerksam, der den sofortigen Einsatz der freien Eisenbahn-Kapazitäten der Deutschen Bahn AG auf der Verbindung Athen – Thessaloniki – Berlin fordert, um die Geflüchteten aus Idomeni nach Deutschland zu bringen (http://faktencheckhellas.org/appell/ ).

K1600_IMG_7582

Am Nachmittag wurden wir von Maria und Haris interviewt. Maria ist Lehrerin und Aktivistin der sozialen Arztpraxis Arta, Haris ist Professor für Ökonomie in Preveza und schreibt Artikel für lokale Zeitungen und gelegentlich für die überregionale Zeitung EfSyn, die nach dem Konkurs der Vorgängerzeitung Eleftherotypia von den Redakteur*innen und Angestellten übernommen wurde und seitdem sehr erfolgreich genossenschaftlich weiter geführt wird. Die Ergebnisse des Gedankenaustausches, in dem es um die Austeritätspolitik und ihre Auswirkungen, die Sozial- und Flüchtlingspolitik, die politische Lage in Griechenland, Deutschland und Europa, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Erfolges rechtsextremer Bewegungen und Parteien sowie um solidarische Initiativen und NGOs in der Sozial- und Flüchtlingsarbeit ging, sollen in lokalen Zeitungen in Arta und möglicherweise in der Zeitung EfSyn publiziert werden.

Insgesamt konnten wir im Zusammenhang mit dem Spendenaufruf für die Flüchtenden in Idomeni vom 1. März in kurzer Zeit ca. 11.300 Euro an Spenden sammeln und diese bis zum 3. April für Flüchtende in Griechenland einsetzen. Das gespendete Geld ist in voller Höhe den Flüchtenden zugutegekommen, die Reise nach Thessaloniki wurden von uns selbst als Mitglieder der Hellas Solidarität komplett privat finanziert. An dieser Stelle bedanken wir uns noch einmal ganz herzlich bei allen Spender*innen und den solidarischen Initiativen in Griechenland.

K1600_IMG_7603

1.März 2016: Wir spenden Zelte für die Frauen, Kinder und Familien in Idomeni!

01.03.2016: Spendet Zelte und Isomatten für die Familien an der Grenze in Idomeni! 
Die Situation der Flüchtenden in Griechenland spitzt sich weiter zu. Ca. 25.000 Menschen können derzeit nicht nach Europa weiterreisen, weil die Grenzen auf der „Balkanroute“ geschlossen wurden. Nur wenige Hundert werden täglich durchgelassen und so hängen die Menschen seit Tagen in Griechenland fest. Allein an der Grenze in Idomeni sind es bereits 14.000, viele davon sind Frauen und Kinder. Gerade sie sind oft besonders schutzlos. Diesen Familien wollen wir helfen und ihnen zumindest etwas Schutz und einen sicheren Schlafplatz ermöglichen. Deshalb rufen wir zu Spenden für Zelte und IsomFlüchtende in Eidomeniatten auf.

Wir bestellen die Zelte und Isomatten über ein Geschäft in Thessaloniki. Die Zelte werden dann direkt an die Initiative Frauenraum Thessaloniki geliefert, die sie zur Grenze bringen.
FAQ Ist meine Spende sicher? Hier entlang für FAQ Spenden.

Viele Menschen schlafen auf auf Parkplätzen oder auf Feldern. Die Menschen legen sehr weite Entfernungen zu Fuß zurück. In Piräus wurde die Abfertigungshalle im Hafen kurzerhand zum provisorischen Transitlager. Täglich kommen weitere tausendIMG_20160301_174105e Menschen von den Inseln. Die Athener Solidaritätsstrukturen leisten seit Monaten dort freiwillige Hilfe, besonders bei der Ankunft von Fähren werden sie dringend gebraucht Garküchen („Sozialküchen“) versorgen die Menschen mit dem Nötigsten. Doch es fehlen Ärzte.

Am Samstag konnte gerade noch verhindert werden, dass sich zwei junge Flüchtlinge auf dem Athener Viktoria-Platz erhängen. Die Menschen in Griechenland befürchten, dass ihr Land zu einem riesigen Flüchtlings-Hotspot wird, zu einem „Lager für menschliche Wesen“.

 

 

 

Freedom of Movement – Europäisches Grenzregime und Perspektiven der Griechenland-Solidarität (aktualisiert 30.10.)

Seit der mit der Grexit-Drohung erzwungenen Unterzeichnung des 3. Memorandums am 13. Juli 2015 durch den griechischen Premierminister Tsipras und der anschließenden Zustimmung zu den Vorabbedingungen durch das griechische Parlament ist das Thema Griechenland aus den deutschsprachigen Mainstreammedien quasi völlig verschwunden. Die griechische Finanzkrise gilt als beigelegt und Europa damit auf Normalitätskurs, die ökonomische Notlage weiter Teil der griechischen Unter- und Mittelschicht und die Auswirkungen der Austeritätspolitik sind allenfalls zu einer Randnotiz geworden. Das „Flüchtlingsproblem“ beherrscht derzeit den Diskurs.
Dabei böte die Tatsache, dass Griechenland im Mittelpunkt der europäischen Strategie.des Migrationsregimes steht, denn es hat in diesem Jahr mit 562.355 über die Ägäis Geflüchteten (1) (bei 368 Toten bis zum 28.10.2015 (2)) europaweit die größte Zahl von Flüchtenden aufgenommen, mehr als nur einen Anlass dazu, die Diskussion über das EU-Grenzregime und die Austeritätspolitik miteinander zu verknüpfen und damit die brennenden Fragen der Ursprungswerte und -mythen des europäischen Projekts, der europäischen Verursacherrolle von Kriegen und Ausbeutung, der Demokratie und des „freedom of movement“ zu thematisieren. Exakt an diesem Punkt kann die Griechenland-Solidarität ansetzen und lebensweltliche, solidarische Unterstützung griechischer Initiativen, wie beispielsweise der sozialen Arztpraxen, leisten und zugleich die Perspektive auf demokratische Veränderung Europas im Blick behalten. Dieser Text skizziert solche Perspektiven und stellt aktuelle derzeitige Strategien der EU-Migrationspolitik gegenüber Griechenland dar.

Bei den Geflüchteten handelt es sich in der Mehrzahl um in Deutschland als Kriegsflüchtlinge anerkannte Syrer (3), doch es kommen auch um Iraker und Afghanen, die nicht damit rechnen können, in Deutschland Asyl zu bekommen. Allein in der Woche vom 16. bis 21.10. 2015 erreichten 48.000 Menschen über die griechischen Inseln die EU, davon 27.276 über die Insel Lesbos. (4)
Obwohl die Zahl der Ankünfte von Flüchtlingen auf den griechischen Inseln bereits seit dem Frühjahr 2015 drastisch anstieg, verhielt sich die Regierung Merkel hinsichtlich der Flüchtlingsfrage in der Zeit des offenen Konflikts mit der neuen griechischen Regierung Tsipras und der Verhandlungen über das 3. Memorandum auffällig ruhig. Zunächst, so scheint es, musste die griechische Regierung auf europäischen Austeritätskurs gebracht und mit der Unterzeichnung des Memorandums in die missliche Lage ökonomischer Abhängigkeit gebracht werden, um letztlich alle wesentlichen Forderungen der Troika, bzw. der EU erfüllen zu müssen, darunter auch die Richtlinien hinsichtlich eines effizienter umgesetzten Grenzregimes in der Ägäis.
Dazu gehört in erster Linie die Einrichtung von mindestens fünf sogenannter Hotspots, – in Deutschland auch als „Transitzonen“ bezeichnet – , welche die Funktion von Erstaufnahme- und Registrierungslagern erfüllen. Neben dem Hotspot Moria auf der Insel Lesbos sollen auf den Ägäisinseln Kos, Leros, Chios und Samos noch im November weitere derartige Einrichtungen fertiggestellt werden (5). Das Lager Moria ist besonders berüchtigt für die dort herrschenden katastrophalen Zustände, die sich seit Mitte Oktober laut Pro Asyl noch verschlechtert haben, weil die Registrierung der Geflüchteten noch länger dauert, seitdem die Frontex 12 aus Deutschland eingetroffene zusätzliche Geräte zur Abnahme von Fingerabdrücken einsetzt (6). Die griechische Regierung sagt, sie habe bisher keine Finanzierung des hierfür veranschlagten Bedarfs von 480 Mio. Euro erhalten. Das griechische Ministerium für Migrationspolitik betonte am 22.10.2015, dass ihr Betrieb von der Finanzierung der EU abhänge. (7)

20151011_181442
Außerdem plant die EU-Kommission die Verlagerung der Hotspots von Kos und Lesbos auf größere Lager auf dem griechischen Festland. Die Lager auf den Inseln sollen bis zum Jahresende insgesamt 30.000 erreichen, in Attika und Thessaloniki sollen Lager mit einer Kapazität für jeweils 10.000 Geflüchtete entstehen. Der der der EU-Kommission zunächst zugeschrieben Vorschlag über die Errichtung eines Lagers für 50.000 in einer ehemaligen Olympiaanlage Athens (8), die unter der Leitung von Frontex und dem Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen betrieben werden soll, ist laut Premierminister Tsipras abgewendet.(9) Er betonte in der Vergangenheit mehrfach, dass seine Regierung es nicht zulassen würde, dass Griechenland sich in ein riesiges Lager für Migranten verwandelt. Die Aufgabe der „Hotspots“, der größeren Lager, soll u.a. darin bestehen, die Flüchtenden effektiver zu registrieren, als es bisher auf den Inseln der Fall war, wo viele der Neuankommenden der Registrierung ausweichen, weil sie kein Vertrauen in die Mechanismen der EU haben oder ihre Abschiebung fürchten. Auch wenn es sich bei der Zahl von 50.000 wahrscheinlich nur um ein Drohszenario gegenüber Athen handelte, zeichnet sich bereits ab, dass auf Griechenland verstärkt Druck ausgeübt werden soll, seine Grenzen zukünftig noch mehr als bisher schon unter europäische Aufsicht zu stellen. Als Argument dient auch hier wieder, dass Griechenland nicht in der Lage sei, den Grenzschutz eigenständig zu organisieren. Der Mitarbeiter des Brüsseler ARD-Studios Christian Feld fragte entsprechend unmittelbar vor dem EU-Sondertreffen in den Tagesthemen am 24.10.2015, warum Griechenland es nicht schaffe, die Hotspots „schneller in Betrieb zu nehmen“ und riet der Regierung eventuell „mehr Hilfe in Anspruch [zu] nehmen“.(10)

Zu den weiteren Plänen der EU gehören neben der Einrichtung der griechischen Hotspots auch die Ausweitung des Einsatzes der Frontex im EU-Inneren. Folglich wurden am 25.10.2015 Maßnahmen beschlossen über erstens die ad hoc Einrichtung eines Mitarbeiterstabes zur engen Koordination der Informationen über die genauen Flüchtlingsströme durch die einzelnen Staaten auf der Balkanroute, damit die Transitstaaten die MigrantInnen nicht mehr zur nächsten Landesgrenze weitertransportieren, wenn es dafür keine Genehmigung des Ankunftsstaates gibt. Außerdem beschloss die EU-Kommission in dem Plan zweitens auch eine neue „Operation der EU-Grenzschutzagentur Frontex“ an der Landgrenze Griechenlands zur ehemaligen jugoslawischen Republik Makedonien und Albanien vor. Die Frontex soll die MigrantInnen kontrollieren und registrieren, die nicht zuvor schon in Griechenland registriert worden sind. (11) Das bedeutet die Einrichtung weiterer von der Frontex betriebenen Grenzbefestigungen z.B. in Eidomeni zur möglichst lückenlosen Erfassung der über Griechenland einreisenden Flüchtenden und vermutlich der dort umgehend verhängten Einreiseverbote in die weiteren EU-Staaten. An der Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland am Fluss Evros gibt es bereits einen Zaun, der mit EU-Geldern erbaut wurde und seit 2010 von der Frontex bewacht wird. (12) De facto wird Griechenland damit zu einem riesigen Auffanglager für Flüchtende, denen die Selektionskriterien eine Weiterreise nach Nordeuropa untersagen. Dieser Plan dürfte dem von Merkel während des Kongresses der Europäischen Volkspartei geforderten europäischen Grenzschutz (13) entsprechen.

Ihr Besuch am 18.10. 2015 in der Türkei ist ebenfalls im Zusammenhang der Planungen für dieses verstärkte Grenzregime zu sehen. Mit Erdogan verhandelte sie über Möglichkeiten zur Sicherung der EU-Außengrenzen durch die Türkei und damit zum dortigen Verbleib in zu errichtenden Containerlagern von Flüchtenden aus dem Irak, Afghanistan und Syrien. Dafür fordert die Türkei 3 Mrd. Euro von Merkel. Eine gewaltige Summe, die das Ausmaß der militärischen Mittel vermuten lässt, welche damit finanziert werden. Denn die Türkei ist selbst Kriegspartei im Syrienkonflikt und in einem von Korruption geprägten Staat muss davon ausgegangen werden, dass 3 Mrd Euro zu allem Möglichen eingesetzt werden könnten, auch zum Kampf gegen innenpolitische Gegner, Kurden usw… Der zunächst von Deutschland gemachte Vorschlag, dass die NATO-Länder Türkei und Griechenland die Aufgabe er Grenzkontrollen in der Ägäis gemeinsam übernehmen, wurde immerhin bereits nach Einwänden Griechenlands hinsichtlich der anhaltenden Konflikte mit der Türkei über die Hoheitsgewässer in der Ägäis fallengelassen.
Bereits seit Anfang Oktober sind Flüchtende sowohl in den Olympiaanlagen in Elliniko als auch im Athener Stadtteil Galatsi untergebracht (14). Es ist ein offenes Lager, in dem in mehreren Sporthallen Menschen aus Afghanistan, dem Irak und Syrien leben, die von den griechischen Inseln und aus Piräus mit Bussen hierher gebracht werden.

20151011_183825

Die griechische Armee versorgt sie mit Nahrung, freiwillige Helfer haben die Organisation des Lagers übernommen. Es gibt eine kleinen Raum, in dem Ärzte in privater Initiative die Flüchtenden medizinisch versorgen, viele Athener bringen zusätzliche Nahrungsmittel und Kleidung. Die Zahl der Flüchtenden bewegt sich in diesen Tagen zwischen 400 und 1200 Menschen.
Die Syrer verlassen dabei das Lager schnell wieder, denn sie verfügen häufig über die finanziellen Mittel und wissen, dass sie in Deutschland willkommen sind. Damit entsteht in den Lagern und auf den Routen eine Hierarchisierung von Flüchtenden nach fragwürdigen Kriterien: Alle – Afghanen, Iraker und Syrer – sind von Krieg und Gewalt betroffen, alle entfliehen einer existenziellen Notlage. Das Kriterium der Verfolgung nur auf Syrer einzugrenzen, erscheint willkürlich und die Hierarchisierung und Selektion der Flüchtenden nach ethnischer Zugehörigkeit ist angesichts der gewalttätigen Konflikte und der Notlage dieser Menschen nicht zu rechtfertigen. Wenn dabei der Verdacht entsteht, den in Griechenland nicht nur Athener Taxifahrer äußern, dass in Europa „Menschenhandel“ betrieben werde, damit in Deutschland die Fabriken mit billigen Arbeitskräften bestückt werden könnten, dann wird das tiefe Misstrauen gegenüber dem europäischen Migrationsregime überdeutlich.

Das griechische Magazin „To Pontiki“ bezeichnete die deutsche Migrationspolitik gegenüber Griechenland am 16.10.2015 als Strategie zur Entsorgung des Flüchtlingsproblems in „Deponien“ für die Beherbergung von Menschen in Griechenland. Deutschland benutze seine während der Verhandlungen mit Griechenland im Frühjahr 2015 ausgebaute europäische Hegemonie und die Kontrollfunktion der Troika in Griechenland zur Schaffung eines Kontrollregimes, das aus Lagern, Hotspots und „Deponien“ bestehe (15), um die Flüchtenden „auszusieben“ und nur denjenigen die Weiterreise zu ermöglichen, die in Deutschland asylberechtigt sind. Doch im Sommer dieses Jahres wurde deutlich, dass die Flüchtenden sich den Zugang nach Europa nicht verwehren lassen und sich massenhaft bis in den Norden durchschlagen. Ja, sie kannten den Begriff „Lager“ und begegneten den Beamten einiger EU-Staaten, die die Transporte begleiteten, mit tiefem Misstrauen.

Angesichts dieser Strategie der EU, die Flüchtenden in Griechenland und der Türkei dauerhaft zu stoppen und die Not der Menschen damit aus dem Blickfeld zu rücken, besteht eine der Aufgaben der Griechenland-Solidaritätsgruppen darin, die Situation in den Lagern auf den griechischen Inseln und auf dem Festland zu thematisieren und in den Fokus der Aufmerksamkeit zu bringen. Auch wenn die Hilfe gegenüber den Flüchtenden, die es bis nach Deutschland geschafft haben, richtig und notwendig ist, werden sich die Bedingungen in Griechenland für die Flüchtenden weiter verschärfen – ebenso wie für die prekären Unterschichten in der griechischen Gesellschaft. Wenn neben der von der Troika in Griechenland weiter fortgesetzten Kürzungspolitik in diesem Winter massenhaft Zwangsräumungen durchgesetzt werden und die Armut weiter zunimmt, werden davon auch die Flüchtenden in den geplanten Lagern betroffen sein.
Die ökonomische und soziale Hierarchisierung der EU in europäische „Normalitätsklassen“ (16), in denen Griechenland nur ein Drittligist und Deutschland mit Bayern an der Spitze ungeschlagener Champion ist, zeigt sich auch in der Allokation, der Zuweisung hierarchisch selektierter MigrantInnengruppen, in denen ein gut ausgebildeter Syrer eine höhere Wertigkeit erhält als ein Afghane oder eine Eritreerin, und folglich auch einem ökonomisch „höherwertig“ eingestuften EU-Aufnahmeland zugewiesen wird. Dieser Prozess vollzieht sich anhand der verschiedenen Legalitätsstufen der Geflüchteten. Griechenland befürchtet, dass beispielsweise Afghanen, die nach Plänen der EU „zurückgeführt“ werden sollen, sich dauerhaft ohne legalen Status in Griechenland aufhalten werden, so wie es auch jetzt bereits der Fall ist. Damit wird Griechenland über den in neoliberaler Terminologie ungünstigeren Bevölkerungsmix ökonomisch weiter herabgestuft und erhält immer mehr die Rolle einer erweiterten Kriegszone, eines cordon entlang der Kriegsgebiete im Nahen Osten, was es zusätzlich zur Strategie der EU der inneren Abwertung der griechischen Wirtschaft, belastet. Mit der weiteren Entrechtung der GriechInnen in Bezug auf ihre demokratischen und ökonomischen Partizipationsmöglichkeiten einerseits, sowie andererseits der Reduzierung der Flüchtenden auf ihre nackte Existenz entsteht die triste Situation breiter prekarisierter Massen in den urbanen Zentren Griechenlands.

Aus all diesem folgt, dass die Griechenlandsolidarität gemeinsam mit den griechischen Initiativen die Bewegungsfreiheit, freedom of movement, und die #safepassage der Flüchtenden und die Aufhebung der gegenwärtigen Hierarchisierung von Flüchtenden in Legalitätsstufen fordern muss, bei einer positiven staatlichen und zivilgesellschaftlichen „Willkommenskultur“ und mit gleichzeitiger Fokussierung auf die Fluchtursachen, wie z.B. Rüstungsexporte in Kriegsgebiete. Die praktische Unterstützung der griechischen Initiativen ist dabei weiterhin ein Mittel, von bloßen Hilfeleistungen zu europäischen solidarischen und von Partizipation geprägten Strukturen zu kommen, die sich nicht entlang nationaler Konstruktionen auseinander dividieren lassen. Die in der Griechenlandsolidarität entstandenen Kommunikationsstrukturen und -brücken zwischen deutschen und griechischen Initiativen lassen sich schnell und unkompliziert für diesen Zweck nutzen, was in einem Land, in dem die Großzahl der Flüchtenden ankommt und in dem noch immer Kapitalverkehrskontrollen herrschen, eine -entscheidende Rolle spielt. Die Unterstützung der griechischen FlüchtlingsunterstützerInnen an der nordgriechischen Grenze zur ehemaligen jugoslawischen Republik Makedonien mit Regenjacken, Babypflege und Nahrung, oder die personelle und finanzielle Unterstützung der vielen internationalen Freiwilligen auf der Insel Lesbos sind gelungene Beispiele dafür.

Schließlich geht es um die gemeinsame europäische Forderung für eine #safe passage , also sichere Fluchtwege und das „freedom of movement“ – das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit. Forderungen, die beispielsweise durch das in Griechenland erfolgreich agierende und europaweit bekannte Netzwerk change4all getragen werden, das in diesen Tagen zu Demonstrationen und Aktionen für den 31.10.2015 gegen den Zaun an der griechisch-türkischen Grenzen am Fluss Evros (17) mobilisiert. Dies wäre eine Perspektive für den Herbst dieses Epochenjahres 2015.
Hellassolidarität Bochum, 30.10.2015


1 http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/hot_spot_center_in_griechenland_verzweiflung_im_elendslager_moria/
2 https://twitter.com/jodigraphics15/status/659640889350877185?utm_source=fb&utm_medium=fb&utm_campaign=dromografos&utm_content=660162772320313344
3 http://data.unhcr.org/mediterranean/regional.php
4 http://www.stokokkino.gr/article/1000000000018743/
5 http://left.gr/news/der-spiegel-i-komision-thelei-kentro-ypodohis-prosfygon-stin-athina#sthash.AQFE1FEb.dpuf
6 http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/hot_spot_center_in_griechenland_verzweiflung_im_elendslager_moria/
7 http://left.gr/news/ypoyrgeio-metanasteytikis-politikis-apo-ti-hrimatodotisi-tis-ee-exartatai-i-leitoyrgia-ton#sthash.WzmNU8S1.dpuf
8 „Tagesspiegel“ vom 24.10.2015, http://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlingskrise-in-europa-spiegel-eu-plant-lager-fuer-50-000-fluechtlinge-in-athen/12492606.html
9 Tsipras erklärte am 26.10.2015, dass der Plan über das Lager für 50.000 von Griechenland abgewendet wurde, stattdessen erhalte Griechenland Mietzuschüsse für 20.000 Geflüchtete, besonders Familien in den Städten Athen und Thessaloniki. http://www.stokokkino.gr/article/1000000000019037/
10 https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-127017.html
11 http://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlingskrise-in-europa-spiegel-eu-plant-lager-fuer-50-000-fluechtlinge-in-athen/12492606.html
12 http://www.fr-online.de/politik/griechenland-verlangt-frontex-jagdszenen-am-evros,1472596,4774344.html
13 http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-merkel-will-europaeischen-grenzschutz-a-1059200.html
14 http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/transitzone_athen_solidaritaet_ersetzt_staatliche_strukturen/ Das Gebäude ist mit 2.500 Quadratmetern weitaus größer als das in Elliniko. In einer großen Halle schlafen Familien auf Decken oder in Zelten, in einer anderen nächtigen alleinstehende Männer. Auch dort gibt es eine große Menge an Spenden von der Zivilgesellschaft, vor allem Kleidung aber auch Lebensmittel. (Fotos von Anfang Oktober 2015)

15 Inland-blog.gr/2015/10/griechenland-als-deutsche-sonderdeponie/2136140/
16 Das Konzept der europäischen Normalitätsklassen von Jürhgen Link ist z.B. hier nachzulesen: http://bangemachen.com/category/krisenlabor-gr/
17 http://www.change4all.eu/change-in-action/detail/stop-the-drownings-in-the-aegean-sea-tear-down-the-evros-fence.html